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Sylt – eine Reise mit mir

Sylt mit Schattenselfie

#36 Sylt – Eine Reise mit mir
Lied zum Text: nee, nicht “Westerland”
Lied zum Text: Mutya Buena “Real Girl”

Ich bin auf Sylt – ganz allein.
Ohne Familie, ohne Freunde, ohne Arbeitskollegen und ohne Aufgaben habe ich mich auf den Weg gemacht, um auszuprobieren, ob ich auch allein reisen kann.
Fünf Tage allein sein waren schon immer ein Traum von mir und gleichzeitig immer mit vielen Zweifeln verbunden. Jetzt habe ich es getan und kann schon mal sagen: ” Nicht grübeln, machen.”
Ach, und so ganz nebenbei habe ich mich auch noch in Sylt verliebt.

So eine Reise fängt bei mir (ihr ahnt es schon) Wochen vorher an, mit grübeln, nachdenken, organisieren, grübeln, verwerfen, grübeln, neu planen. Diese Reise ist schon seit Jahren in meinem Kopf, ich möchte mal allein los.
Klar bin ich schon ohne Henrik oder Familie irgendwohin gefahren. Aber da waren dann Freunde, Arbeitskollegen oder wenigstens Aufgaben, die mich auf der Reise begleitet haben. Diesmal gibt es nix davon, nur Sylke und ihre umfangreichen inneren Begleiter – also doch nicht ganz allein, mein Kopf fährt ja auch mit.

Henrik bringt mich früh nach Südkreuz zum Zug. Wir verabschieden uns schnell, denn er steht im Halteverbot, noch ein Küsschen, noch ein Winken, dann bin ich allein.
Der Zug kommt pünktlich ist aber überraschend voll. Alle stehen schon auf den Gängen und sind genervt. Ich suche die 1. Klasse doch der Wagen ist wegen technischer Probleme gesperrt. Na gut, ich setzte mich mit meinem 1. Klasse Ticket auf meinen Koffer und beobachte das Schauspiel. Und da gibt es einiges zu sehen, zum Beispiel der Schlipsträgerkampf in der Schwingtür. Beide Schlipsträger wollen gleichzeitig durch die Schwingtür beide drücken nach vorn, da steht aber jeweils der andere. Ein Kampf im Fliegengewicht beginnt – rote Ecke – Mann mit rotem Schlips, blaue Ecke – Mann mit blauem Schlips. Runde 1: Rotschlips hat etwas mehr Schwung und schafft es sich in die Mitte zudrücken, beide stecken in der Mitte fest.
Runde 2: Blauschlips holt zum Konter aus: ” Sie haben wohl eine sehr schlechte Kinderstube genossen.” Was für ein Satz für einen gerade mal Dreißigjährigen. Er ist bestimmt der Stolz seiner Beraterfirma.
Rotschlips ist irritiert. Die Spannung steigt.
Runde 3: Rotschlips fängt sich wieder und holt aus: ” Sie dann ja auch.” Krawumm und gewonnen. Rotschlips ist als erster durch die Tür.
Dann kommt eine Frau, in der ich mich sofort wieder erkenne. Erst drückt sie zaghaft gegen die Tür, dann zieht sie sie in die andere Richtung auf. Ich diagnostiziere ein Türen-Trauma, da kenne ich mich mit aus. An jeder Tür, an der “Drücken” steht, ziehe ich erstmal und umgekehrt. Nach 25 Jahren Zusammensein höre ich von Henrik dann nur noch ein Seufzen. Kommentare in solch einer Situation sind ihm vor 15 Jahren ausgegangen.
So verbringe ich vergnügliche 3 Stunden im Zug nach Hamburg, hier steigen alle Schlipsträger  aus und ich bekomme für die letzten 3 Stunden nach Sylt doch noch einen Sitzplatz. Ab jetzt schaue ich aus dem Fenster, schaue der Landschaft zu, wie sie an mir vorbeizieht. Die Welt bewegt sich, ich nicht.
Vor einer Zugfahrt nehme ich mir immer ganz viel vor, wie im Zug lesen, Mails und Whatsapps schreiben, Hausaufgaben machen, aber letztendlich überkommt mich dann immer eine melancholische Trägheit und ich kann nur aus dem Fenster sehen.

Dann geht es über den Hindenburg-Damm. Rechts und links von mir die Nordsee in wunderschönem Grau und schon hält der Zug in Westerland. Sylt begrüßt mich mit richtigem Nordseewetter: kalt, Regen, Wind von vorn und alles riecht nach Meer. Nach 500 Metern bin ich durchnässt und im Hotel.
Hier passiert etwas, was noch nie jemand mit mir im Hotel gemacht hat. Der Rezeptionist erklärt mir 15 Minuten, wie die Schlüsselkarte funktioniert (mit Vorführung), wo ich den SPA-Bereich finde, zeigt mir den Frühstücksraum, bringt mich zum Fahrstuhl, erklärt mir dreimal, wo mein Zimmer ist. Bei dem Pärchen hinter mir dauert die Einweisung 2 Minuten. Mir wird klar, ich gehöre jetzt zur den “schutzbedürftigen” alleinreisenden Frauen (Frage: Wer hat diese Erfahrung auch schon gemacht?).

Ich stelle nur meinen Koffer im Zimmer ab, lege mich schnell trocken und dann gehe ich raus an den Strand. Kaum draußen, bin ich wieder nass, doch am Strand hört es auf zu regnen. Der Wind bläst mich trocken. Ich habe den riesigen Strand für mich allein. Das Meer brodelt und zischt, legt die Wellen genau vor meine Füße und sagt: “Schön, dass Du da bist.” Und ich antworte mit einem fetten Lächeln im Gesicht: “Schön das ich da bin.”

Ich fühle mich frei, mutig und glücklich, als ich da am Strand spaziere.

Dann knurrt mein Magen und ich schwanke zwischen: “Ich hole mir nur schnell was auf der Hand.” und “Ich habe richtig Hunger. Ich gehe essen.” Der Hunger siegt. Ich finde ein kleines Restaurant, das nicht um 20 Uhr schließt (das ist im Moment nicht so einfach auf Sylt), bestelle mir ein Radler und eine sehr leckere Roulade. Alleine Abendbrot essen gehen kann ich also auch abhaken.
Im Hotel quäle ich mich in den Schlaf und schon beginnt Tag 2 meines Experiments.

Nach einem wirklich sehr guten Hotelfrühstück gehe ich an den Strand. Es ist immer noch stürmisch. Die Wolken fegen über den Himmel, dadurch verändert sich das Licht ständig. Ab und zu schaut auch die Sonne raus und dann wird es von wunderschön zu fantastisch schön. Ich laufe und laufe und laufe. Durch meine Brille kann ich nur noch verschwommen sehen, da sie voller Salz und Wasser ist. Die Möwen ziehen über mir ihre Kreise, meine inneren Begleiter sind still, außer den Wind, den Wellen keine Geräusche, keine Stimmen in mir. Nur das hier und jetzt zählt – ich bin bei mir. Am roten Kliff mache ich kehrt und gehe über die Dünen zurück. Ich fange langsam an, mich in die Insel zu verlieben.
Vor 25 Jahren war ich schon mal da und da konnte mir die Insel gar nichts geben. Auch später habe ich immer an Schickiemickie und schrecklichen Bausünden bei dem Namen Sylt gedacht.
Doch für meine Alleinreise gab es kein besseres Ziel bei meinen Überlegungen. Erstmal kenne ich viele, die von der Insel schwärmen. Sie ist mit dem Zug von Berlin aus richtig gut zu erreichen. Alles ist übersichtlich, es gibt Geschäfte, Strand, ein Kino und einen guten Nahverkehr auf der Insel.
Ich habe nicht viel erwartet und am Ende ganz viel bekommen.

Mir war zum Beispiel nicht bewusst, dass ich fast 40 km durchgängigen Sandstrand zum Laufen habe (ich habe immer nur 12 -13 km geschafft), dass das Meer an der Westseite nie “verschwindet”, dass Sylt Naturschutzgebiete hat, in denen man allein unterwegs ist, Sylt auch die einzige Wanderdüne Deutschlands besitzt und dann dieses Licht, dass diesen Flecken Erde immer wieder neu verwandelt. Sylt ist einfach eine unglaublich schöne Insel.

An diesem Abend bin ich kaputt, habe keine Lust auf alleine essen und mache mir eine 5-Minuten Terrine im Zimmer, als Nachtisch gibt es Joghurt und Mandarinen. Ich gehe noch in die Sauna und hoffe, danach gut zu schlafen – falsch gehofft.

Tag 3 beginnt mit Sonnenschein und Stille. Kein Wind weht, die Insel strahlt im goldenen Licht der tiefstehenden Wintersonne. Ich fahre mit dem Bus nach List. Ich will Römö sehen. Die Fahrt geht durch die Dünenlandschaft und am Wattenmeer vorbei. Nebel steht in den Dünen und verzaubert sie in ein Märchenland. In List angekommen, versuche ich Römö zu sehen, aber der Nebel liegt auch über dem Watt. Ich laufe auf dem Deich Richtung Ellenbogen entlang. Die Sonne leckt langsam den Nebel auf. Ich kann nicht beschreiben, wie unwirklich schön die Atmosphäre hier ist.
Und dann sehe ich Römö – ein Erinnerungsort für mich. Zehn Jahre sind wir jedes Jahr im Herbst hier her gefahren.  Mit 19 Jahren war ich mit Henrik und vielen Freunden zum ersten mal hier und dann irgendwann mit Kindern und Freunden, mit der Familie, mit unseren beiden Kindern und immer wieder mit Freunden. Dann waren wir 10 Jahre gar nicht mehr da und vor 2 Jahren im Februar wieder, nur mit unseren Kindern.
Ich stehe also in Sylt, schaue rüber und schwelge in Erinnerungen an wunderbare, vergangene Zeiten.

Die Sonne hält sich auch, als ich nach 14 km laufen und 4 Stunden später wieder am Lister Hafen stehe. Ich setzte mich in die Sonne, trinke Tee, esse Kuchen und bin dankbar für mein Leben.

Der Tag ist noch lange nicht zu ende als ich in Westerland wieder ankomme. Es ist 15:30 Uhr und es wird langsam dunkel. Was mache ich jetzt? Da höre ich meine Lebensfreundin Tina sagen: ” Warum gleich eine ganze Woche allein irgendwohin fahren? Fang doch mal mit einem Kinobesuch an.” ” Tina, ich gehe allein ins Kino, hier auf Sylt.”
Hercule Poirot löst den “Mord im Orientexpress”. Ab und zu würde ich ihm gerne etwas helfen, für mich ist der Fall nicht so neu, wie für ihn. Zum Schluss geht der Fall aus wie immer – buhh. Danach geht es ins Steakhouse und ich lasse mir extra viel Zeit beim Essen.  Das machen, nach meinen Beobachtungen, die Alleinesser im Restaurant sehr selten. Irgendwie ist der Kellner auch etwas verwundert, jedenfalls wurde ich noch nie so oft angesprochen, ob ich noch etwas brauche.

Im Hotel geht es wieder in die Sauna und eine schlaflose Nacht folgt.

Am Donnerstag beschließe ich, zum Friseur zu gehen. Haare ab heißt das Motto. Ich verbringe vergnügliche 2 Stunden beim Haare schneiden. Durch quatschen, lachen, Tee trinken vergeht die Zeit wie im Flug und am Ende steht eine gut geschnittene Frisur.
Als ich rauskomme, nieselt es vor sich hin. Trotzdem geht es an den Strand, die Frisur muss ja zeigen, ob sie Niesel und Wind stand hält. Macht sie, sie übersteht auch richtigen Regen waagerecht von vorn.

Um 16 Uhr bin ich dann mit Elli verabredet. Elli ist Sylt-Liebhaberin und eine Ex-Kollegin. Sie hat mir oft sehr leckeren grünen Tee aus Sylt mitgebracht. Heute gehen wir zusammen in “ihren” Teeladen. Wir schnuppern, kosten und kaufen natürlich ein.
Zusammen gehen wir durch den Regen zu “Blums”. Hier essen wir Fisch, lachen, tratschen, trinken und werden um 21 Uhr mehr oder weniger rausgeschmissen. Die Stühle werden auf die Tische gestellt, der Boden um uns rum gewischt.
Ein amüsanter Abend geht zu Ende, schlafen klappt immer noch nicht richtig.

Mein letzter Tag, schon sind die fünf Tage rum. Nochmal allein frühstücken, dann an den Strand 2 Stunden laufen und  mich verabschieden und schwupps sitze ich wieder im Zug nach Berlin.

Es ist ein gutes Gefühl, wenn Du erkennst: “Ich kann die Welt auch allein erobern.”
Dann fährt der Zug Südkreuz ein. Henrik steht schon da, mein Herz hoppelt, ich habe meine Hand fest in seiner und denke: ” Doch mit ihm ist das Welt erobern einfach schöner.”

Wir gehören zusammen

Fazit:

-Allein verreisen ist gar nicht schlimm.
– Das Zug-, Busfahren und auch Fliegen allein ist gar kein Problem.
– Allein spazieren gehen, das mache ich auch zuhause, ist also völlig in Ordnung, nur seine
Eindrücke gleich jemanden mitzuteilen, geht nicht.
– Allein ins Kino gehen ist überhaupt kein Problem.
– Auf seine Hotelschlüsselkarte, Bahn- und Bustickets alleine achten, für mich sehr
anstrengend. Henrik nimmt das sonst alles an sich, weil ich, der eigentlich sehr
organisierte Teil unserer Beziehung, diese Sachen einfach verbummele. Bei P&C verliere
ich gerne diese Abschnitte, mit denen man seine Sachen an der Kasse
bekommt…Katastrophe.
– Eine Menge Zeit für sich zu haben, alles nur für sich selber zu planen und zu organisieren
ist toll.
– Allein essen gehen ist auch nicht schlimm, aber irgendwie ungemütlich.
– Alleine schlafen ist richtig blöd und funktioniert bei mir fast nie. Ohne meinen Fußwärmer und Rückenankuschler geht das mit dem Einschlafen nicht. Ich kann zwar bis 3 Uhr nachts, ohne jemanden zu stören, lesen, aber würde ich bis 3 Uhr nachts wach sein, wenn Henrik hier wäre?
– Man ist allein offener für die Außenwelt, beobachtet mehr, bekommt mehr mit, was um einen herum und in sich selber passiert. Das ist anstrengend und zu gleich sehr interessant.

Würde ich das noch einmal machen? Auf jeden Fall, diesmal mit Schlaftabletten im Gepäck.

Muscheln am Strand

 

 

 

 

 

 

 

 

4 Kommentare

  • Karin & Reinhard

    Fazit Nr. 2
    Wir haben für das “Türen-Trauma” eine Erklärung!
    Als Kleinkind hat eine Kundin unaufmerksam unserer Tochter mit voller Wucht
    eine schwere Glastür an den Kopf geknallt.
    Seitdem versucht sie scheinbar jede Tür zum Selbstschutz, auch gegen die Drehrichtung zu öffnen! !

  • Elli

    Liebe Sylke, wie immer ein wunderschöner Beitrag. Es hat mir besonders viel Freude gemacht, Deinen Bericht zu verschlingen

    schöner kann man die ” Königin der Nordsee” nicht beschreiben 🙂

    Gruß Syltfan Elli

  • Christel

    Hallo Sylke,
    wunderschöne Bilder und Lust auf “Meer”.
    Man sieht Dir an, dass die Reise Dir gut getan hat, ein entspanntes Lächeln auf dem Rückweg, Herz, was begehrst Du “Meer”….
    Für Trubel ist noch genug Zeit, auch wenn ich ja weiß, dass Du ja kein Weihnachtsfan bist 😉
    Alles Liebe
    Christel

  • Evelin

    Liebe Sylke,
    Ich habe Deinen Syltbericht mit großem Interesse gelesen. Er ist -wie alle Deine Berichte- sehr anschaulich und liebevoll verfasst.
    Wir sind schon seit Anfang der 90er Jahre in Sylt verliebt. Nach einem Tagesausflug von Hamburg aus, waren total Begeistert ob der unterschiedlichen Vegetation auf Sylt und der Luft und sind seitdem schon sehr oft dort gewesen. Man hat tatsächlich nach einiger Zeit Sehnsucht nach Sylt
    Liebe Grüße
    von Evi

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