Grübeln über ...

Grübeln über – S-Bahn fahren

Ich sitze in der S-Bahn und höre dem Leben zu.
Kollegen, Freunde, Bekannte treffen sich am Morgen in diesem Abteil und teilen für ein paar Stationen ihre Zeit.
Es ist Montag, das Wochenende wird ausgewertet und ich lausche mit einem Grinsen in meinem Gesicht.
Nie hätte ich gedacht, dass mir regelmäßiges S-Bahn fahren so viel Vergnügen bereitet.

Über 20 Jahre war ich ein S-Bahn Verweigerer, bloß nichts mit Menschen und vor allem nicht an heißen Sommertagen. Da stand ich lieber stundenlang im Stau auf der Berliner Stadtautobahn, allein in meinem gut gekühlten Auto, mit „meiner“ Musik und tief in Arbeitsgrübeleien.

Als ich vor ein paar Wochen meinen neuen Job angenommen habe, war mir gleich klar: „Ich werde mit der S-Bahn fahren.“
Ich hatte keine Lust mehr auf Stau und die lästige Parkplatzsuche.
Außerdem sollte nicht nur mein Job neu sein, sondern auch mein Fahrweg.
Nur nicht gleich wieder in alte Muster verfallen.

Ich wollte das altbekannte Gefühl vermeiden, „Schnell nach der Arbeit nach Hause zu müssen, um dort die nächsten Pflichten zu erfüllen.“
Unsere Kinder sind groß. Wir brauchen niemanden mehr vom Kindergarten abholen oder noch schnell Hausaufgaben machen oder zum Training bringen. Ich muss nicht schnell noch die Wäsche waschen, damit Sportsachen für den nächsten Tag sauber sind oder unterwegs noch ganz flink etwas einkaufen.
Um es klar zu sagen: „Ich kann es langsam angehen lassen.“
Aber was man 20 Jahre trainiert hat, lässt sich auch mit einer Auszeit nicht einfach ausmerzen. Mein Kopf hängt noch in diesen alten Mustern und darum habe ich mir eine S-Bahn-Zeit verordnet.

Am ersten Tag habe ich mir noch ein Buch für die halbe Stunde Fahrt eingepackt. Ich wollte Mails/WhatsApps schreiben und Musik hören, um mich von den Menschen, Gerüchen, Anremplern in dieser fahrenden Sardinenbüchse abzulenken.
Doch ich kam nicht dazu.
Ich setzte mich ans Fenster und schaute raus. Altbekannte Abschnitte zogen an mir vorbei und ich nahm alles neu wahr. Entgegen meinen Erwartungen genoss ich die Zeit. Ich brauchte auf nichts zu achten, konnte mich einfach fahren lassen, meinen Gedanken nachhängen und aus dem Fenster schauen.
Das Buch hat nach diesem Abend sofort meine Handtasche verlassen und ich nehme mir nix mehr vor für diese Zeit.

Mittlerweile fahre ich schon wieder eine ganze Weile mit der Bahn und oft mit den gleichen Leuten.
Ich schaue nicht mehr nur raus, sondern höre zu (ihr kennt mich ja ;0) ).
So erlebe ich ein Stück Seifenoper, mit oft gleichen Dialogen aber auch Überraschungen und unvorhersehbaren Wendungen.

Am Sonntagabend freue ich mich schon auf die nächste Folge.
Wird der ewige angehetzte Mann morgen früh noch den Sprung ins Abteil schaffen oder die Bahn wieder mal verpassen?
Werden auf dem rechten Fensterplatz die zwei älteren Damen sitzen oder nur eine von beiden?
Als das erste mal nur eine dort saß, machte ich mir schon Gedanken. Mittlerweile weiß ich, es ist nichts Schlimmes passiert, sondern sie haben diese Woche nur unterschiedliche Schichten bei Ikea.
Wie war wohl die Klassenfahrt von den beiden Lehrern, die Adlershof immer zusteigen?
Und wer wird als Überraschungsgast auftreten?
Aber vielleicht schaue ich auch nur aus dem Fenster und lasse die Welt an mir vorbeiziehen.

Unsere Auszeit hat mich verändert. Ich bewerte Situationen anders, gönne mir auch in Alltagsmomenten, Freude und Glück zu empfinden.
Mein Wahrnehmung ist eine andere geworden.

An den letzten, sehr heißen Tagen, wäre das S-Bahn fahren für mich vor zwei Jahren noch ein Höllentrip gewesen.
Schwitzende, genervte Menschen, dicht gedrängt in einer nicht klimatisierten Bahn, kommen meiner Vorstellung vom Fegefeuer schon sehr nah.
Doch jetzt ich stehe an der Tür und beobachte eine junge Mutter, die in diesem Trubel ihrem Kind leise Geschichten zu einem Bilderbuch erzählt und ganz unverhofft stiehlt sich ein Grinsen in mein Schweiß benetztes Gesicht. Ein älterer Mann sieht mein Lächeln und auch seine Mundwinkel ziehen sich nach oben. Ein kleiner perfekter Moment.
Ohne meine neue Form der Aufmerksamkeit, ohne meine Bereitschaft im Jetzt zu sein, hätte es diesen Augenblick für mich nicht gegeben.
Danke Auszeit für diese innere Veränderung!

Und übrigens, wenn ihr montags und dienstags eine blonde, korpulente, grinsende Frau in der Berliner S-Bahn seht -also mich, sprecht mich ruhig an, auch für so etwas bin ich neuerdings ganz offen.

Ich – nach der morgendlichen S-Bahnfahrt – ganz schön zufrieden

Und Ich habe noch eine Frage direkt an die Bahn:
Ist das eigentlich ein Running Gag für meine Seifenoper, dass in Südkreuz abends immer andere Züge angezeigt werden als die, die einfahren?
Denn in Köllnische Heide und Baumschulenweg führt das ganz oft zu überraschten Gesichtern, allgemeiner Hektik und lustigen Kommentaren : “ Äh, sind wir nicht in der Ringbahn?“ „Ups, wo bin ich den jetzt?“, “ Ach Mensch, nicht schon wieder!“

Ich freue mich schon riesig auf Montag.

S-Bahn – die Seifenoper kann beginnen.

 

 

 

 

 

 

 

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